Algorithmische Komposition im Kontext Neuer Musik: Formalisierung und Intuition

Eine Auseinandersetzung mit Neuer Musik ist meist eine Herausforderung, der wir uns auf unterschiedliche Weise nähern können. Wenn wir ein tieferes Verständnis für Werke zeitgenössischen Musikschaffens suchen, brauchen wir einen Ausgangspunkt. Es handelt sich ja um Musik, warum also nicht auch diese Genesis beginnen lassen mit: „Am Anfang war das Ohr!“ Der erste Höreindruck – mag er uns zusagen oder nicht –  ermöglicht Aufschlüsse über die Struktur des Werkes und kann zu einer näheren Auseinandersetzung motivieren. Jedoch, schon durch den linear zeitgebundenen Vorgang des Hörens, bleiben Aspekte eines Werkes verborgen, die mikroskopisch und in aller Ruhe durch die Analyse einer Partitur entdeckt werden können.

Unser Hören und Analysieren richtet sich jedoch zumeist auf  ein „vollendetes Werk", dessen Entstehungsprozess von uns zwar erahnt werden kann, der in vielen Aspekten jedoch verborgen bleibt. Wäre es nicht interessant einen Komponisten / eine Komponistin bei der Entstehung eines Werkes zu begleiten – ein Werk nicht nur als ein abgeschlossenes Ganzes, sondern auch aus seiner Genese heraus zu betrachten?

Dies ist der hoffnungsvolle Ansatz unseres Projekts, das als Kooperation zweier Institute der Kunstuniversität Graz entstand: dem Institut für Elektronische Musik und Akustik und dem Institut für Komposition, Musiktheorie, Musikgeschichte und Dirigieren.

Das grundlegende Konzept bestand in einer Art künstlerischen Laborsituation, in welcher der Projektleiter (in diesem Fall ich) und die KomponistInnen in einen Dialog traten, um Aspekte des kompositorischen Schaffens mit Ansätzen der Algorithmischen Komposition zu beleuchten. Die Auswahl der KomponistInnen in Bezug auf die Anforderungen des Projekts war nicht einfach: Es sollte sich um profilierte KünstlerInnen mit einer hohen Bereitschaft zur kritischen Reflexion der eigenen Arbeit handeln, die außerdem unterschiedliche ästhetische Positionen und kompositorische Herangehensweisen vertreten. Im Sinne der Kooperation war es weiters erwünscht, dass die meisten ProjektteilnehmerInnen am Institut 1 der Kunstuniversität eine Lehrtätigkeit ausüben. Vor allem die Anforderungskriterien der Professionalität, der Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion und der unterschiedlichen kompositorischen Positionen waren im Sinne der künstlerischen Laborsituation essenziell.

Als allgemeines Schema, das in jedem Fall natürlich aufgrund der unterschiedlichen Persönlichkeiten sehr unterschiedlich ausgeprägt war, lässt sich folgende Herangehensweise skizzieren:

  • „Aufgabenstellung“ war eine Komposition für Kammerensemble.
  • Mögliche kompositorischen Strategien wurden mit dem Projektleiter besprochen und von diesem einer Formalisierung unterzogen, d. h. es wurden Computerprogramme erstellt, die gemäß den kompositorischen Strategien musikalische Strukturen erzeugten.
  • Die Ausgaben dieser Programme wurden von den KomponistInnen einer kritischen Prüfung unterzogen und in Bezug auf die Realisierung der eigenen kompositorischen Vorstellungen bewertet.

 

Dieser Prozess erfolgte in Zyklen von Generierung und Evaluierung und ermöglichte einige Aufschlüsse über kompositorische Entscheidungen „unterwegs“, also Strategien, die im Rahmen des Schaffensprozesses von den KünstlerInnen verfolgt wurden. Warum aber sollte man überhaupt Algorithmen, Computerprogramme verwenden, hätte eine minutiöse Dokumentation der eigenen Arbeit von KomponistInnen nicht vergleichbare Resultate geliefert? Schon die oben gegebenen – sehr rudimentären – Definitionen des Begriffs „Algorithmus“ verdeutlichen: Es geht hier um Abstraktion vom Einzelfall, sehr vereinfacht um Verallgemeinerung. Verallgemeinerung, Abstraktion sind im Kontext dieses Projekts aber nicht als Vereinfachung zu verstehen, sondern als eine Möglichkeit kompositorische Entscheidungen auf einer Metaebene nachzuvollziehen.

So weit, vielleicht so gut, aber: Die KomponistInnen bewerten die Resultate ihrer eigenen Strategien – im herkömmlichen wissenschaftlichen Kontext eine doch wohl mehr als fragwürdige Herangehensweise! Richtig – doch es geht hier nicht um die Bewertung der Qualität einer Komposition, sondern um die Bewertung von Entscheidungen und deren musikalische Resultate im Rahmen eines Schaffensprozesses. Entscheidungen im Entstehungsprozess eines Werkes können der Komponistin / dem Komponisten jedoch nicht abgenommen werden, hierfür ist sie / er allein verantwortlich. Gerade diese doppelt heikle Position, die sich in einer – im positiven Sinne – kritischen Sichtweise auf die eigenen musikalischen Entscheidungen übt, stellt jedoch einen essenziellen Aspekt der kompositorischen Arbeit dar. Natürlich, gerade durch die Konfrontation mit den Generierungen eines Systems, auch als mehr oder weniger beabsichtigte Resultate eigener Strategien, entstehen Seiteneffekte, die auf den Schaffensprozess zurückwirken. Auch werden durch das „musikalische Angebot“ der jeweiligen Programme unter Umständen andere Wege beschritten, eigene Strategien neu überdacht. Die Resultate müssen jedoch dem eigenen ästhetischen Urteil unterzogen, angenommen oder verworfen werden und wieder: Die Verantwortung über die „Stimmigkeit“ einer musikalischen Struktur und deren allfällige weitere Verwendung kann dem Komponisten / der Komponistin nicht abgenommen werden.

Im Hinblick auf das Gesagte ist ein gewisses Maß „Stilsicherheit“ in Bezug auf die eigene Arbeit als auch die Bereitschaft zur kritischen Selbstreflexion der KomponistInnen sicher wünschenswert; warum aber der Wunsch nach unterschiedlichen ästhetischen Positionen und  kompositorischen Zugangsweisen? Es ging bei diesem Projekt gerade nicht um das Ausloten einer bestimmten Ästhetik oder die Verifizierung bestimmter Annahmen durch die Auswahl einander ähnlicher „Probanden“. Im Gegenteil – divergierende Positionen waren höchst willkommen, da sie bei aller Unterschiedlichkeit  doch eines immer wieder ans Licht brachten: dass Komponieren ein komplexer Vorgang ist, der sich aus einer Vielzahl bewusster oder unbewusster Entscheidungen zusammensetzt, die in ihrer Summe zu einem emergenten Ganzen werden, das – wen wundert’s – mehr ist als die Summe seiner Teile.

 Gerhard Nierhaus (2010)